Pressefreiheit für Schülerzeitungen

Der folgende Beitrag zur ehemaligen Schülerzeitung "Die Stimme" wird mit freundlicher Genehmigung seines Autors, Dr. Anton Ottmann, veröffentlicht. Er erschien am 14. Mai 2021 in der "Wieslocher Woche".

Von Dr. Anton Ottmann

Kommentar in der Schülerzeitung „DIE STIMME“, Januar 1963: „Liebe Leser! Ja, wenn ich das mit den Konzentrationslagern und den Juden gewusst hätte… So versuchen unsre Eltern immer wieder ihre Haltung während des 3. Reiches zu rechtfertigen. Haben sie aber wirklich nichts gewusst? Ich glaube ihnen, dass sie nichts von der Existenz der K.Z.s wussten. Sie können aber nicht leugnen, dass sie einen ‚Mein Kampf‘ im Bücherschrank stehen hatten. Sie können nicht leugnen, dass sie den Hetzreden von Hitler und Goebbels im Radio gelauscht und andächtig zugehört haben, wenn die Rede von dem Untermenschen Juden war, den es auszurotten galt. Sie können nicht leugnen, dass sie die Kristallnacht erlebt haben, dass sie zusahen, wie jüdische Synagogen zerstört, wie Schaufenster jüdischer Geschäfte zertrümmert, wie Juden beschimpft, wie Juden ohne Grund verhaftet wurden. Sie waren vielleicht sogar der Meinung, dass dieses Volk das arische Blut vergifte. Hält man unseren Eltern diese Argumente entgegen, so antworten sie: Ich konnte nichts dagegen tun, ich war nur ein kleiner Mann. Viele kleine Leute aber geben ein Volk, und der Großteil des Volkes schrie begeistert bis zum Ende Heil! Warum sprechen unsere Eltern nicht offen mit uns, warum nicht in einer Sprache, die wir verstehen?“

Diesen Kommentar verfasste ich mit 18 Jahren als „Chefredakteur“ der Schülerzeitung des Wieslocher Gymnasiums, und er war an die Generation gerichtet, die vor uns das Dritte Reich hautnah miterlebt hatte. Vorausgegangen waren viele Diskussionen im Familien- und Freundeskreis. Meinen eigenen Eltern hatte ich den Artikel vor der Veröffentlichung zu lesen gegeben, und sie fanden ihn gut.

Wie kam es zu diesem Kommentar? Meine Mutter war als Elsässerin während des Krieges zwangsweise nach Baden versetzt worden. Nach dem Krieg musste sie als einzige unbelastete Lehrkraft zusammen mit einem Gymnasialprofessor aus Wiesloch in meinem Heimatort Dielheim acht Jahrgangsklassen unterrichten, längere Zeit auch ganz alleine. Nach der Entnazifizierung kehrten 1948 sieben Lehrer an die Schule zurück, gleichzeitig wurde meine Mutter entlassen, weil mein Vater ein ausreichendes Familieneinkommen hatte. Dieses sogenannte „Doppelverdiener-Gesetz“ galt nur für Frauen. Meine Eltern waren empört und fanden das Gesetz zutiefst ungerecht. Sie klagten durch alle Instanzen bis zum 1951 frisch geschaffenen Bundesverfassungsgericht. Die Klage wurde nicht einmal angenommen. Diese Abfuhr hatte in meiner Familie zu heftigen gesellschaftskritischen Diskussionen geführt, vor allem auch die Tatsache, dass ehemalige Nazis nach und nach wieder in ihre alten Positionen als Schulleiter und Schulräte zurückkehrten und mit dafür sorgten, dass das Thema „Nationalsozialismus“ und die Vorgänge im Dritten Reich im Beamtenapparat wie im Unterricht tunlichst vermieden wurden.

Der Kommentar schlug ein wie eine Bombe. „Die Stimme“, die es erst seit zwei Jahren gab, war plötzlich in aller Munde. Dass einige Lehrer ihren Unmut über die Veröffentlichung an mir ausließen, war weniger angenehm. Der Artikel sei vollkommen oberflächlich, ich hätte ja keine Ahnung, wie die Zustände damals gewesen seien und ob ich nichts Besseres zu tun hätte, als solchen Mist zu schreiben. Eine Lehrerin, die ich bis zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht kannte, musste ich bei der Hofaufsicht begleiten, während sie mir über mein leichtsinniges „Geschreibsel“ eine Moralpredigt hielt. Ein Lichtblick war unsere junge Französischlehrerin, die mit der ganzen Klasse über das Thema ruhig und sachlich diskutierte.

Es kamen zahlreiche Leserbriefe. Eine ehemalige Schülerin fand, dass aus dem Beitrag die „Überheblichkeit der Twen-lesenden deutschen Jugend spricht“, Der Presse- und Informationsdienst der Deutschen Bundesregierung war der Meinung, dass es sich um „aggressiv zugespitzte Anklagen“ handle und Fürst Fugger von Gött schrieb: „Die heutige Jugend kann sich nicht vorstellen, in was für einer Atmosphäre des Terrors die Menschen im Dritten Reich leben mussten.“ Zustimmung kam von einem Leser der Elterngeneration: „Es ist Euer Recht, vielleicht sogar Eure Pflicht, unsere Generation ins Kreuzverhör zu nehmen.“ Dabei hatten die meisten mein wirkliches Anliegen überhaupt nicht verstanden. Denn mir ging es in meinem Artikel gar nicht um die Verbrechen an sich, an denen ja nichts mehr zu ändern war, auch nicht um Mitwisserschaft und Tolerierung, sondern dass die Elterngeneration nicht zu ihrem damaligen Fehlverhalten und zu ihrer Verantwortung gegenüber der nachfolgenden Generation stand. Vertuschung, Verharmlosung und Verleugnung waren an der Tagesordnung. Genau diese Gemengelage war dann schließlich einige Jahre später die Ursache für die Studentenbewegung der 1968-er Jahre. Sie gingen damals auf die Straße und demonstrierten gegen das verstaubte Hochschulwesen, die große Koalition, den Vietnamkrieg und nicht zuletzt gegen die fehlende Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit.

Für „Die Stimme“ blieb das Ganze nicht ohne Folgen. Der Schulleiter, mit Sicherheit kein Nazi, aber den preußischen Tugenden wie Gehorsam und Ehre verpflichtet, sah durch den Kommentar das Ansehen der Schule verletzt und drohte mit dem Verbot der Schülerzeitung. Auf meinen Hinweis auf die Pressefreiheit erwiderte er, dass immer noch er auf dem Schulgelände das Sagen habe. Ich könne eine eigene Schülerzeitung herausgeben und außerhalb verteilen. Ähnlich wurde auch von den Vertretern des Kultusministeriums auf Tagungen der Schülermitverwaltung argumentiert. Der Schulleiter sah dann zwar von einem Verbot ab, stellte mir aber einen Vertrauenslehrer zur Seite, der mich in Zukunft bei der Abfassung der Texte beraten sollte. Dies ging nun gegen meinen Ehrenkodex und ich übergab dem „Zensor“ die nächste Ausgabe einschließlich der Lesebriefe erst, nachdem ich das Manuskript an die Druckerei verschickt hatte. Danach stellte ich meine redaktionelle Mitarbeit für die Schülerzeitung ein und konzentrierte mich auf das Abitur.

1972 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass die Pressefreiheit auch für Schülerzeitungen gilt, dem folgten entsprechende Gesetze und Erlasse auf Länderebene. Nach heutiger Rechtsauffassung sind Schülerzeitungen Druckerzeugnisse und erfüllen so den „Rechtsbegriff der Presse“. Deshalb ist auch eine Zensur durch die Schulverwaltung verboten. Dies gilt selbstverständlich auch für Online-Schülerzeitungen, die zunehmend im Kommen sind.